2020-08-08 – „Das spürt man…“

Es war vergangenen Sonntag. Der Gottesdienst ist zu Ende, viele gehen langsam hinaus, manche bleiben noch im Mittelgang stehen, um sich zu verabschieden, noch ein Schwätzchen zu halten, oder sich zu verabreden für die kommende Woche.
Einige Touristen kommen herein, u.a. eine junge Frau, die sich in der Kirche umschaut und dann auf mich zu geht. „Sie haben hier aber eine besondere Atmosphäre. Sehr angenehm, das spürt man“, so ihre Worte. Und dann: „So eine Freundlichkeit untereinander, da fühlt man sich gleich wohl…“
Ich war ziemlich überrascht und konnte nur ein „Oh, Danke!“ zur Antwort geben. Die Bemerkung der jungen Frau ist mir noch länger nachgegangen.
Man kann Atmosphären spüren. Man spürt, ob Menschen freundlich, wohlwollend, offen miteinander umgehen, oder ob eine Gruppe geprägt ist von Misstrauen, Abwertung, Angst usw.
Manchmal ist es gut, wenn man von außen gespiegelt bekommt, wie man wahrgenommen wird – als Einzelne/r, als Gruppe, als Gemeinde. Und es tut gut, wenn damit die Aussage verbunden ist: „Bei dir, bei euch – da fühle ich mich wohl.“
Ganz besonders in Zeiten, wie diesen.
Eine wohltuende Atmosphäre bedeutet ja nicht, dass alle der gleichen Meinung sind oder sein müssten. Sie zeigt sich darin, wie Konflikte miteinander ausgetragen werden: ob ein gegenseitiges Zuhören möglich ist, ob man dem jeweils anderen zunächst einmal eine gute Absicht unterstellt oder ob jede Seite die Wahrheit allein für sich beansprucht und die andere Seite oder Andersdenkende diffamiert und verächtlich macht. „Das spürt man…“
Manche kritisieren die Kirche/n für ihr Verhalten in der Corona-Krise. Sie hätten kritiklos alle Maßnahmen der Politik übernommen und würden so „mitschuldig“ an der ungerechtfertigten Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte. Darüber kann man streiten. Pauschale Verurteilungen helfen da sicher nicht weiter.
Mir ist etwas anderes wichtiger: Kirche sollte in Zeiten der Krise oder der Krankheit wie ein gutes Krankenhaus sein, also gesundheitliche, soziale und diakonische Dienste anbieten. Und darüber hinaus mithelfen in der Diagnose, der Prävention und der Rekonvaleszenz.
Diagnose: die Zeichen der Zeit erkennen.
Prävention: Menschen gegen die Viren der Angst, des Hasses und des Populismus immunisieren.
Rekonvaleszenz: mithelfen, die gegenseitigen Verletzungen zu vergeben und immer wieder Schritte der Versöhnung gehen.
Eine solche heilsame Atmosphäre wird in den sogenannten Seligpreisungen beschrieben, fast wie ein Grundsatzprogramm der christlichen Gemeinden: Selig die Friedfertigen, selig die Barmherzigen, selig die Sanftmütigen – sie werden das Leben finden…
An dieser Stelle danke ich der jungen Frau letzten Sonntag, die mich aufmerksam gemacht hat, wie gut es tut, eine heilsame Atmosphäre zu spüren. Und ich wünsche uns allen genau diese Erfahrung. „Das spürt man…“

Pfarrer Ansgar Schmidt, Ev.-Luth. Kirchgemeinde St. Johannis, Zittau

„Wort zum Sonntag“, veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung am 08./09.08. 2020