2020-09-13 – „Woran wirst du dich erinnern?“
So fragt die Sängerin Christina Stürmer in ihrem Lied „Was wirklich bleibt“. Und damit ist die Frage berührt, wie wir mit dem Land der Erinnerung in uns umgehen. Der Vers, der uns ab diesem Sonntag in die neue Woche begleitet, sagt es so: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ (Psalm 103,2) Was hier gemeint ist, wird wohl am besten deutlich, wenn wir anschauen, wie dieser Vers heute abgewandelt wird. Eine äußerlich kleine Veränderung mit großer Inhaltsverschiebung ist z. B. diese: „Vergiss nicht, was Ich dir Gutes getan habe.“ Das ist ein Satz, der so nicht unbedingt direkt ausgesprochen wird, aber er bildet das (un)heimliche Motto vieler Reden, besonders im Wahlkampf. Solche Reden sind dann oft ähnlich interessant und ehrlich wie die Kundgabe der Planerfüllungszahlen früher am 1. Mai. Solcher Ich-Verliebtheit hat schon Berthold Brecht den Spiegel vorgehalten. Er entlarvte die uferlosen Ich-Schilderungen Cäsars im „Gallischen Krieg“ mit der Frage, ob Cäsar bei seinen Eroberungen nicht wenigstens einen Koch als Unterstützung dabei gehabt hätte. Ganz im Gegensatz dazu werde ich hellhörig und spitze die Ohren, wenn jemand erzählt, wofür er loben will und was Gott ihm Gutes getan hat.
Eine weitere Abwandlung des Satzes, die nicht nur Gott, sondern schließlich auch sich selbst vergisst, wird in folgender Beschreibung deutlich. Der Schriftsteller Arno Geiger vergleicht darin die Alzheimerkrankheit seines Vaters mit der Entwicklung unserer Zeit: „Gleichzeitig ist Alzheimer ein Sinnbild für den Zustand unserer Gesellschaft …, in der es zahlreiche feste Pfeiler gab (Familie, Religion, Machtstrukturen, Ideologien, Geschlechterrollen, Vaterland)“. Was davon blieb, so Arno Geiger weiter, ist nur noch ein „Trümmerfeld solcher Stützen“.
Was also tun, wenn die Aufmerksamkeitsspanne in unseren Tagen oft nur noch die unmittelbare Gegenwart umfasst? Es scheint, dass sich uns heute mehr denn je die Frage stellt: Woran wirst du dich erinnern? Christina Stürmer wandelt ihre Frage im Lied dann in den Wunsch um: „lch will mich an dich erinnern.“ Und genau das ist es, was unser Psalmwort im Blick auf Gott meint. An dich, Gott, will ich mich erinnern, an dein Wirken, an deine Möglichkeiten. Darum: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“
„Wort zum Sonntag“, von Gerd Krumbiegel, Pfarrer in Großschönau,
veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung vom 12./13. September 2020.