2022-07-17 – Selig sind die Ver-rückten
„Selig die Abgebrochenen, die Verwirrten, die in sich Verkrochenen, die Ausgegrenzten, die Gebückten, die an die Wand Gedrückten. Selig sind die Verrückten!“, so der Refrain eines Liedes von Reinhard Mey. „Selig“ heißt übersetzt „glücklich“.
– Es ist Freitagabend, Anfang Juni dieses Jahres. In der Krankenhauskirche spielt die Folkgruppe „Der Faule Lenz“. Bei der Anmoderation eines Liedes wird mit den Worten: „Wer will, der kann gerne zum Lied tanzen“, nach vorn eingeladen. Ich sitze in der ersten Reihe, meine Beine übergeschlagen. Ich höre die Einladung zum Tanz wohl, aber denke innerlich, dass das nicht ganz so ernst gemeint ist. Plötzlich steht sie vor mir, Andrea, eine junge Frau, Patientin im Krankenhaus. Mit leuchtenden Augen schaut sie mich an und fragt mich: „Pfarrer, darf ich?“ Ich bin über ihre Frage verdutzt, nicke und sage: „Na klar.“ – Und dann tanzt sie über den Kirchenboden, dass es nur so bebt. Ihr ganzer Körper gleitet über die Fliesen. Ihre Bewegungen sind pure Energie. Nicht nur bei dem einen Lied, nein, auch bei den folgenden. Ich bin fasziniert von der Freude, die in ihren Bewegungen und aus ihrem Gesicht strahlt. Ein kleines Mädchen kommt vorsichtig nach vorn und überlegt, ob es auch mittanzt. Ob es sich selbst nicht traut oder von der Mama zurückgehalten wird, weiß ich nicht. „Schade“, denke ich. – Und dann passiert es, Andrea kommt zu mir und lädt mich zum Mittanzen ein. Ich lächle verlegen und denke: „Das kannst du nicht machen. Was werden die Leute von dir sagen, wenn du, der Pfarrer, in der Kirche tanzt?“ So schüttle ich den Kopf. Sie zuckt kurz mit den Schultern und sagt: „Schade.“ Dann tanzt sie weiter – allein. Ich bleibe ich an diesem Abend „normal“ (in meiner selbst auferlegten Norm) und verpasse es, meinem inneren Wunsch nachzugehen.
Andrea macht es besser. Sie kümmert sich nicht darum, was die Menschen um sie herum denken könnten. Sie tanzt, weil ihr danach ist, und sie genießt die Freude beim Tanzen.
An diesem Abend haben sich die Rollen vertauscht; bin ich der Patient, der in seiner „Norm“alität stecken bleibt und ist sie die „Seelsorgerin“, die mit ihrem Tanz meiner Seele guttut. Ich denke an das Wort Jesu: „Wer nicht das Reich Gottes annimmt wie ein Kind, wird nicht hineinkommen.“ (Die Bibel, Lukas 18,17)
Andrea hat mir gezeigt, welche Kraft und Lebendigkeit im „Kindsein“ liegen und wie befreiend es ist, wenn ich als Erwachsener den Mut habe, kindlich zu sein. Ach so: „kindlich“ meint nicht „kindisch“. „Kindlich leben“ meint, in der Freiheit und aus der Kraft Gottes zu leben und den Mut zu haben, aus der „Normalität“ herauszutreten, wenn sie mein Leben einengt. Gott selbst ist „Normalität“ fremd, denn sonst hätte er uns alle gleich gemacht.
Die Lieder aus dem Konzert verlieren sich langsam, die funkelnden Augen und die Lebendigkeit von Andrea beim Tanzen aber sind mir noch sehr präsent und werden es wohl noch länger sein. Eins noch: Bleibt zu hoffen, dass ich beim nächsten Mal mutiger bin…
„Wort zum Sonntag“, von Pfarrer Peter Pertzsch, Krankenhausseelsorger im Fachkrankenhaus Großschweidnitz, veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung vom 16./17. Juli 2022.