2022-10-23 – Sünde?
Der Predigttext für diesen Sonntag ist auf den ersten Blick eine Heilungsgeschichte: Vier Menschen wollen einen gelähmten Mann zu Jesus bringen und hoffen, dass er ihn gesund macht. Das Problem: Jesus lehrt gerade in einem Haus und dieses Haus ist klein, die Menge der Hörer aber ist groß. Scheinbar gibt es kein Durchkommen. Die Freunde jedoch lassen sich davon nicht abhalten und klettern kurzerhand auf das Dach. Von dort aus seilen sie ihren Gefährten zu Jesus ab. Doch anstatt den Gelähmten direkt gesundzumachen, spricht Jesus ihm zu: Dir sind deine Sünden vergeben.
Sünde – da ist sie wieder. Viele können mit diesem Begriff heute nichts mehr anfangen. Und das hat seinen Grund: Die Rede von der Sünde birgt die Gefahr, dass Menschen auf manipulative Art und Weise ein schlechtes Gewissen eingeredet wird. Wäre es nicht vielleicht besser, das Wort Sünde aus unserem Vokabular zu streichen? Ich meine: Nein. Wenn wir über Sünde reden, sollten wir das unbedingt sehr achtsam tun. Aber auf das Wort Sünde ganz und gar zu verzichten, hieße zu unterschlagen, wie wir Menschen manchmal sind: Wir tun Dinge, die wir im Nachhinein als Fehler erkennen, wir verletzten andere und wir verletzen manchmal auch uns selbst. Das kann dazu führen, dass unsere Tat wie ein unüberbrückbares Hindernis zwischen uns und unserem Mitmenschen oder zwischen uns und Gott steht. Sünde bedrückt und engt ein. Vergebung nimmt die Angst und befreit.
Auch Jesus befreit den Gelähmten von dem quälenden Gedanken, ob seine gesundheitliche Situation vielleicht eine Strafe Gottes sei. Nein, das ist sie nicht. Und viel mehr noch: Indem er den Gelähmten schließlich doch heilt, zeigt er, dass Gott uns ganz nahe gekommen ist. Er will, dass uns nichts von ihm und voneinander trennt. Was für eine Befreiung.
„Wort zum Sonntag“, von Pfarrer Michael Müller, Pfarrer in Kirchgemeinde Am Großen Stein Seifhennersdorf und Jugendpfarrer im Kirchenbezirk Löbau-Zittau, veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung vom 22./23. Oktober 2022.