2023-11-19 – Die Reise nach innen
Der Kunsthistoriker und Journalist Albert Theile (1904-1986) erzählt: „Meine erste Weltreise hatte mich nach Japan geführt. Ich stand vor dem Phönix-Tempel bei Kyoto, der alten Kaiserstadt. Der Mönch erkundigte sich, woher ich käme. Ich wäre kein Europäer gewesen, wenn ich ihm nicht meine Reise in leuchtenden Farben geschildert hätte. Begreiflich vor einem Buddhisten, dass ich die heiligen Stätten seines Glaubens hervorhob: Buddha-Gaya in Indien, Kandy auf Ceylon. Das Gesicht wurde ernst, immer ernster.
Als ich geendet, entstand eine Pause.
Dann der Mönch mit dunkler Stimme: „Welch ein Schicksal Sie haben! Wie leid Sie mir tun, dass Sie reisen müssen. Ich reise nur nach innen.“
Nur eine kleine Begebenheit in der Fülle der spektakulären Reiseeindrücke. Aber Albert Theile hat sie nie vergessen. In diesem Moment wurde alles infrage gestellt, was bislang sein Lebensinhalt gewesen war, nämlich: möglichst viel sehen und erleben von der Welt, Bilder berühmter Stätten sammeln, Bücher über faszinierende Kulturen schreiben, sich einen Namen machen in der Wissenschaft.
„Ich reise nur nach innen.“ – Die Anfrage, die ich höre, lautet ja: Reist du denn auch nach innen?
Bleibt dein Leben nur oberflächlich oder geht es in die Tiefe? Bleibst du nur distanzierter Zuschauer oder lässt du dich ein, mit allem, was du bist? Bist du fähig zur Hingabe? Lässt du dich infrage stellen? Bist du bereit, deine Schuld, deine Schwächen, deine Ängste anzusehen? Kannst du verzichten, zugunsten eines anderen Menschen oder um eines Ideals willen?
Die Reise nach innen ist das Wachsen zur wirklichen Menschlichkeit. Am Buß- und Bettag werden wir daran erinnert, dass unser Leben wesentlich werden soll. Und der Weg dahin? Jesus sagt: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ (Johannes 6,68)
„Wort zum Sonntag“, von Barbara Herbig, Pfarrerin in der Kirchgemeinde Zittauer Gebirge Olbersdorf, veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung vom
19. November 2023.