2024-05-26 – Warum bist du auf dem Camino? – Weil ich mich selbst finden will
„Camino“ – ärgert dich das Fremdwort? Ich kannte das Wort bis vor drei Monaten auch noch nicht. Es ist spanisch und heißt „Weg“. Wer in Spanien auf einem der zahlreichen Jakobswege unterwegs ist, sagt die Worte „Buen camino! / (Ich wünsche dir einen) Guten Weg!“ wohl häufiger als sonst „Bitte“ und „Danke“.
Wann finde ich mich selbst? Die Antwort ist einfach: Wenn du losgehst. Es ist einfacher, als man denkt. Am Camino Frances, dem meistgenutzten, sogenannten „Französischen Jakobsweg“, liegen aller 5-10 km Herbergen; der Weg ist sehr gut beschildert, so dass man im Vorhinein lediglich eine Ausrüstung organisieren muss (es gibt Packlisten im Internet) und das Budget berechnen (etwa 60€ pro Tag genügt für Unterkunft, Verpflegung und etwas Kultur).
Wer losgeht, erlernt bald einen Lebensrhythmus jenseits eines überfüllten Alltags. Das, was sich über Jahre auf die Seele gelegt hat an Last und Hast, Überforderung und Stress, Betriebsamkeit und Zerstreuung, bröckelt beim Gehen langsam ab. Es geht nicht von heute auf morgen. Aber allein zu sein, zusammen mit sich selbst, mit den eigenen Schmerzen am Fuß und den Erfolgen einer gelungenen Etappe, wirkt heilsam. Aus der Sicht eines pilgernden Menschen sieht das Leben zu Hause anders aus: Ich sehe, was überflüssig ist, und ich sehe, was ich nicht aufgeben werde, weil es zu meinem Kern gehört. Die Adlerperspektive auf das eigene Leben über eins, zwei, drei Wochen ist heilsam, denn aller Wahrscheinlichkeit nach ist zu erkennen: Um ich selbst zu sein, brauche ich viel weniger, als ich meinte zu brauchen.
Nimm frei! Eine, zwei, drei Wochen können dafür sorgen, dass der Lebensweg nach dem Camino besser wird als zuvor. „Buen Camino“ wünscht Pfarrer Stephan Rehm
„Wort zum Sonntag“, von Stephan Rehm, Pfarrer im Kirchspiel Oberes Spreetal veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung vom 25./26. Mai 2024.