2024-10-20 – Alles unter Kontrolle?
Bei einem Freund bemerke ich, dass er täglich mehr als genug Alkohol zu sich nimmt. Auf die Frage, ob er das nicht problematisch findet, antwortet er nur sinngemäß: Nein, das ist kein Problem. Ich habe alles unter Kontrolle. Doch genau diese Aussage macht mich skeptisch. Sie verstärkt in mir das Gefühl, dass der Kumpel doch alkoholkrank ist.
Bestimmt kennen auch Sie solche „Alles-unter-Kontrolle-Aussagen“: Wenn es um zu dichtes Auffahren oder um zu viel Arbeit oder um Probleme in der Beziehung geht. Spricht man die betreffende Person darauf an, kommt eine abwehrende Antwort. Und sicher haben Sie das auch schon selbst über sich behauptet, um unliebsamen Diskussionen aus dem Weg zu gehen: „Ich habe alles im Griff.“ Doch schmerzhaft wird es, wenn der Kontrollverlust nicht mehr zu übersehen ist. Absturz, Unfall, Trennung.
Auf wohltuende Weise nimmt uns ein Satz von Jesus jegliche Kontrollillusion: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.“
Nicht die geistlich Reichen, nicht die Lenker und Macher, nicht die Helden dürfen sich freuen, sondern die, denen es innerlich wirklich elend geht. Und noch mehr: Ihnen gehört das Himmelreich. Dieser Satz stellt alles auf den Kopf. Denn in unserer Welt sind es doch die Strahlemänner und -frauen, denen die Macht gehört. Das Himmelreich aber gehört denen, die nicht mehr weiter wissen, die betrübt nach unten schauen oder die sich vor Scham am liebsten einbuddeln würden.
Keineswegs geht es dabei aber nur um die offensichtlich Gescheiterten. Geistlich arm zu sein, bedeutet sich selbst zu den Gescheiterten zu zählen. Wenn ich mir eingestehe, dass ich oft genug keine Kontrolle habe – über Gesundheit und Krankheit, über Gelingen und Misslingen, über Glück oder Unglück – dann hat das Himmelreich eine Chance auch in mein Leben zu kommen. Wenn ich selbst die Kontrolle abgebe, kann ich erleben, wie Gott das Steuerrad übernimmt. Eine herrliche Erfahrung, die ich mir und Ihnen wünsche.
„Wort zum Sonntag“, von Michael Müller, Pfarrer in der Kirchgemeinde Am Großen Stein Seifhennersdorf, veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung vom 19./20. Oktober 2024.