2024-11-24 – Gewinnen? Verlieren?
Eine Zeit der Wahlkämpfe liegt hinter uns. Und nun auch wieder vor uns. Viele Beobachter sind sich einig: es wurde noch nie so hart um jede Stimme gekämpft wie diesmal, vor allem in den USA. Raue Umgangstöne, Entwertungen, Einsatz von KI: alles kommt darauf an zu gewinnen – genügend Stimmen, die Mehrheit, die Macht, die Deutungshoheit… Wir sehen sie – die Sieger auf dem Podest, bejubelt, frenetisch gefeiert. Die Verlierer? Lecken ihre Wunden, suchen nach Schuldigen. In der großen Politik, genauso wie im banalen kleinen Alltag.
Dieser Sonntag jetzt trägt in der Evangelischen Kirche den Namen Ewigkeitssonntag. Christen erinnern an die Menschen, die alles verloren haben: nämlich ihr Leben. Wir gedenken an diesem Sonntag der Verstorbenen und rufen sie uns in Erinnerung. Und werden so selbst daran erinnert, dass unser Leben hier auf dieser Erde nicht ewig dauert, sondern endlich ist. Und unter dieser Perspektive der Endlichkeit hier auf Erden und der Ewigkeit des Himmels könnten Gewinnen und Verlieren eine neue Bedeutung bekommen. Davon erzählen interessanter Weise auch Menschen, die durch Krankheit oder einen Unfall in die Nähe des Todes geraten und, wie sie sagen, noch einmal davon gekommen sind. Sie berichten oft, dass für sie ein neues, ein anderes Leben begonnen hat, wie eine zweite Chance. Und dass sie seitdem anders mit sich und mit dem Leben umgehen. Gewinnen und Verlieren verstehen sie neu. Ich glaube, tief in uns allen liegt diese Sehnsucht, das Leben anders betrachten zu können als einen Kampf mit Gewinnern und Verlierern – und es liegt viel daran, dieser Sehnsucht mehr Raum zu geben.
Das Wort „Gewinnen“ nicht mehr verknüpfen mit einer Erhöhung des Bankkontos oder dem Erreichen einer noch höheren Position mit noch mehr Macht, auch nicht mit einem Sieg über andere Menschen in all den kleinen und großen Kämpfen. In einer neuen Sicht, die uns der christliche Glaube anbietet – nicht nur am
Ewigkeitssonntag – sind die Gewinner die, die beginnen, selbständig zu denken und zu fühlen. Gewinner können andere Menschen respektieren und bewundern aber lassen sich nicht von anderen völlig bestimmen oder ruinieren, verpflichten oder einschüchtern. Gewinner übernehmen Verantwortung für ihr Leben und räumen keinem eine falsche Macht über sie ein. Sie stellen sich nicht hilflos und geben auch anderen nicht vorschnell die Schuld. Für Gewinner ist Zeit kostbar. Sie leben hier und jetzt. Sie können zuhören, ohne zu bewerten; sie können Zuneigung geben und empfangen, können lieben und sich lieben lassen. Gewinner haben zu ihrer Ruhe gefunden und kümmern sich um die Welt und ihre Menschen. Sie geben sich hin, ohne sich aufzugeben; sie gehen ihren Weg ohne Angst und machen diese Erde, da wo sie sind, menschlich.
Man muss nicht an der Grenze des Todes gestanden haben, um dieses neue Lebensgesetz an sich selbst zu erfahren: Wer beginnt, sich für die Belange anderer zu interessieren, vergibt sich nichts, wenn er sich gibt; und er verschenkt nichts, wenn er sich schenkt. In diesem Sinn wünsche ich uns, dass wir Lebensgewinnerinnen-und gewinner werden – ein Gewinn für die Welt, in der wir sind!
„Wort zum Sonntag“, von Pfr. i. R. Ansgar Schmidt, Zittau, veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung vom 25./26. November 2024.