2025-08-17 – Die Seiltänzerin

Wenn die Pausenmusik leiser wird und das Licht unter das Zeltdach wandert – wenn das Auge gerade so noch das schmale Seil erkennen kann, das zwischen die Pfosten gespannt ist – wenn die junge Frau mit den zarten Schuhen sich vorsichtig über den Anfang der Leine schiebt – unter ihr ein Abgrund! – dann hält wohl jede und jeder den Atem an.
Das Seil schwingt leicht in der Luft und sie muss sich sehr konzentrieren, wenn sie wirklich die andere Seite erreichen will. Sie atmet tief ein und aus und dann geht es langsam weiter. Solange sie nach vorn schaut, geht es gut. Aber schaut sie nach links oder rechts, beginnt sie zu wackeln auf ihrem Seil und droht hinunter zu stürzen.
Weniges ist so beeindruckend, wie die Seilkunstnummer im Zirkus. Egal, was die Künstlerin gerade noch gedacht hat; egal, wie ihr Leben bisher so verlaufen ist; egal, was am Ende für sie herausspringt – in diesem Moment muss sie ganz bei sich sein und ganz bei dem, was sie tut. Nur sie und das Seil. Die vielen Übungsstunden, sie sitzen in den Knochen, sind in Muskeln und Hirn eingeschrieben. Doch ein falscher Schritt würde es zunichtemachen.
Ein Wagnis, in der Tat! Und gerade deswegen ein Bild für den Glauben. Auch hier sind wir unterwegs auf dem schmalen Grat, der Himmel und Erde voneinander trennt. Wagen uns vor an Orte, die wir erdgebundenen Menschen sonst nicht sehen würde. Ich gehe meinen Weg mit Gott manchmal wie auf einem Seil. Etwas zieht mich weiter, einen Schritt vor den anderen zu gehen. Doch jederzeit könnte ich runterspringen und etwas anderes tun, mich ablenken lassen von all dem, was mir das Ziel vernebelt.
Hin und wieder komme in ins Schwanken und alles wackelt und ich wage mich nicht mehr vorwärts. Unsicherheit und Zweifel lassen mich wanken. Ein Wagnis ist nicht nur aufregend, ein Abenteuer nicht nur großartig.
Dennoch: nur so kann ich wachsen. Gegen den Schein, trotzdem darauf vertrauen! Mich neu auf Gott ausrichten. Lernen, zwischen Himmel und Erde zu schweben. Teil dieser Welt und auch schon bei Gott zu sein. Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich’s wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin. (Brief des Paulus an die Philipper, 3. Kapitel)

Gastbeitrag in der SZ-Kolumne „Um Himmels willen“ von Pfarrerin Christin Jäger, Oderwitz in der Wochenendausgabe vom 16./27. August 2025.