2021-05-29 – Welche Fahne?
Erst die erschreckenden Bilder aus der geografischen Ferne: unzählige Leuchtspuren von Raketen am nächtlichen Himmel hier, die Ansichten von in Trümmern gelegten Wohnhäusern dort – der blutige und hasserfüllte Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern drehte gerade wieder eine weitere Runde der Verwüstung und des Tötens. Dann das Spiegelbild davon in deutschen Großstädten: Demonstranten mit Palästinenserfahnen und der zornigen Parole: „Kindermörder Israel“ hier, Demonstranten mit Israelfahnen und Solidaritätsbekundungen für Israel dort. Schließlich dann die zahlreichen politischen Wortmeldungen zum Selbstverteidigungsrecht Israels und der offenkundigen Gefahr des Antisemitismus auch in arabischen Zuwanderermilieus.
Ja, es stimmt: Als Deutscher Staat und als Deutsches Volk wächst aus unserer furchtbaren Geschichte die Verpflichtung, unter allen Umständen für die Freiheit von jüdischem Leben und Glauben sowie für das Israelische Volk und den Staat Israel einzustehen. Der antisemitische Vernichtungsfeldzug des Nationalsozialismus war eben nicht nur „ein Fliegenschiss“ in der deutschen Geschichte, sondern er legt uns eine bleibende Verantwortung auf. Und ja, es stimmt: Gerade als Christen dürfen und müssen wir das Jüdische Volk als Gottes geliebtes und besonders gerufenes Volk achten und anerkennen, unsere älteren Glaubensgeschwister.
Aber es stimmt eben auch, dass die arabischen Israelis sich oft genug wie ein Volk 2. Klasse behandelt fühlen, dass in den Palästinensergebieten weithin eine Ohnmacht und Perspektivlosigkeit herrschen, die fast noch schlimmer wirken als die Hass-Agitation der Hamas. Und es stimmt auch, dass das politische Handeln Israels und wohl vor allem auch Netanjahus die (tatsächlichen und gefühlten) Rechte der Palästinenser oft genug mit Füßen tritt, Stichwort: Siedlungsbau im Westjordanland. Und gerade als Christen dürfen und müssen wir das leidende palästinensische Volk in Jesu Auftrag zur Nächstenliebe ganz bewusst mit hineinnehmen.
Womit also jetzt Flagge zeigen – Palästinenser- oder Israelfahne? Ich finde, wir müssten wohl immer beide Fahnen gleichzeitig hissen. Um deutlich zu zeigen, dass wir das Existenzrecht Israels uneingeschränkt unterstützen. Und zugleich das Leiden, die Demütigung und Entrechtung des Palästinensischen Volkes beachten und für eine Verständigung und Versöhnung eintreten.
Im Grunde müsste dafür immer noch eine dritte Fahne mit im Gepäck sein. Mir fällt ein altes christliches Fahnensymbol ein: Es zeigt ein Lamm mit einer Siegesfahne. Das Lamm steht als Symbol für Jesus Christus, die Siegesfahne für die Auferstehung des Lebens am Ostermorgen. Mit dieser Fahne zeigen wir: Nicht Gewalt, Gegengewalt, Hass oder Vernichtung werden am Ende den Sieg davon tragen, sondern der Mut zur Demut, zur Hingabe, zur Gewaltlosigkeit (in Worten und Taten) und zum Vertrauen.
„Wort zum Sonntag“, von Thomas Markert, Pfarrer im Kirchgemeindebund Löbauer Region
veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung vom 29./30. Mai 2021