2019-01-26 – Dass du nicht vergisst, was deine Augen gesehen haben

Zahava war eine kleine rundliche Frau mit einem verschmitzten Lachen und aufmerksamen braunen Augen. Sie stammte ursprünglich aus Polen. Mit uns sprach sie Deutsch. Sie hatte es in den Lagern gelernt. Manchmal machte sie sich einen Spaß daraus, uns herum zu kommandieren: „Achtung!“, „Stillgestanden“, „Antreten zum Appell!“. In Zahavas Zimmer hingen zig Bilder von Säuglingen und kleinen Kindern. Fröhliche kleine Wesen mit strahlenden Augen und lachenden Mündern.
Zahava war Jüdin und als solche 1944/45 auf einen sogenannten Todesmarsch von Auschwitz nach Bergen-Belsen geschickt worden. Fast 1000 km zu Fuß, im Winter. Auf dem Weg hatte sie das Kind, das sie in Auschwitz geboren hatte, einer polnischen Frau in die Arme gelegt. Sie hat dieses Kind nie wieder gesehen und auch keine weiteren Kinder mehr bekommen.
Der letzte Sonntag nach Epiphanias fällt in diesem Jahr genau auf den 27. Januar, dem Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus. Für diesen Fall gibt es eine eigene Leseordnung für den Gottesdienst und auch einen besonderen Tagesspruch. Er steht im 5. Buch Mose im 4. Kapitel: „Hüte dich nur und bewahre deine Seele gut, dass du nicht vergisst, was deine Augen gesehen haben, und dass es nicht aus deinem Herzen kommt dein ganzes Leben lang.“
Zahava hat ihr Leben lang unter dem Verlust ihres Kindes gelitten, genauso wie unter den schweren Traumata, die die Zeit in Konzentrationslagern bei ihr verursacht haben. Irgendwann später hatte sich Zahava taufen lassen. Jesus Christus war für sie der einzige Weg zur Vergebung gewesen, hat sie immer wieder gesagt. Nur durch diesen Glauben war es ihr überhaupt möglich, mit deutschen Volontären zu sprechen, sich von ihnen helfen zu lassen und ihnen ihre Geschichte zu erzählen.
Zahava hat nie vergessen, was ihr an Grausamem widerfahren ist. Aber sie ist daran nicht zerbrochen. Inzwischen ist Zahava verstorben. Aber nun kennen Sie ihre Geschichte.

„Wort zum Sonntag“, von Friederike Hecker, Pfarrerin der Kirchgemeinde Ebersbach,
veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung vom 26./27. Januar 2019