2019-12-21 – An der Kasse

Manchmal geschehen sie doch noch – diese kleinen, aber sehr einprägsamen Erlebnisse, die einen irgendwie berühren. Und manchmal an Orten, wo man es am wenigsten erwartet. Es war vor einigen Tagen an der Kasse bei Aldi. Vor mir eine ältere Dame mit ihrem Einkaufswagen, davor noch ein älterer Herr.
Die Dame schaut sich um, sieht mich mit meinen zwei Sachen in der Hand und bietet mir an: „Wollen Sie vor?“ Ich antworte: „Nein, danke. Alles gut. Heut hab ich mal Zeit.“ Das hört der Herr vorne und kommentiert: „Ach ja, wir Rentner haben ja immer eigentlich keine Zeit.“
Die Dame vor mir schaut mich nachdenklich an; ein wenig scheint sie zu lächeln und sagt dann: „]a, ja, je älter ich werde, um so weniger Zeit habe ich noch. Meine Lebenszeit wird knapper. Und darum wird die Zeit für mich immer kostbarer.“
Ich hatte es zuerst nicht recht verstanden: wie das – die alten Leute haben keine Zeit? Dann ist es mir aufgegangen: je älter wir werden, um so weniger (Lebens-) Zeit bleibt uns. Die Dame an der Kasse bei Aldi hat mich etwas gelehrt: im Blick auf die Zeit nicht in Panik geraten, sondern sich der Kostbarkeit der Zeit bewusst werden. Und in Gelassenheit die Zeit nutzen. „Carpe diem, nutze den Tag“. (Zum Beispiel, indem ich jemanden vorlasse …)
Ich habe mich nach dem Bezahlen noch gefragt: Wie nutzt diese Frau wohl ihre kostbare Zeit? Sie hat nicht den Eindruck gemacht, als müsste sie aus jeder Sekunde das Beste heraus holen. Sie machte auf mich den Eindruck großer Gelassenheit.
Und noch etwas ist mir eingefallen: Wenn Zeit etwas Kostbares ist, dann könnte man doch Zeit verschenken, zu Weihnachten zum Beispiel.
Dieser Sonntag ist der 4. Advent. In vielen Häusern und Wohnungen und natürlich in den Kirchen finden wir in diesen Wochen Adventskränze mit vier Kerzen: An den vier Sonntagen vor Weihnachten wird je eine Kerze angezündet. Ein wunderbares Bild: Die Zeit bis Weihnachten hat einen Anfang und ein Ziel. jede Woche eine Kerze mehr: Es wird heller und wärmer, je näher wir Weihnachten kommen. Es ist wie im Leben: je klarer wir Anfang und Ziel haben, umso erfüllter wird die Zeit.
Morgen brennt die vierte Kerze. Nun brauchen wir nicht mehr lange zu warten: das Fest der Geburt Jesu ist nah. Wer sich an diesem Kind orientiert, kann etwas erahnen, was erfüllte Zeit im eigenen Leben bedeutet. Für den erwachsenen Jesus war die Zeit kostbar: Er hat sie mit seinen Freunden geteilt und mit Menschen, die in irgendeiner Weise Hilfe gebraucht haben. Und er hat davon gesprochen, dass mit ihm eine neue Zeit beginnt. Bei Aldi an der Kasse hab ich davon etwas gespürt.
Ich wünsche Ihnen eine erfüllte Zeit – zu Weihnachten und im neuen Jahr!

P.S: Wenn die Dame diese Zeilen liest: Bitte, melden Sie sich. Ich hätte zu gern noch mehr von Ihnen erfahren und würde ein wenig Zeit mit Ihnen teilen …

„Wort zum Sonntag“, von Ansgar Schmidt, Pfarrer in Zittau,
veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung vom 21./22. Dezember 2019.