2020-10-30 – Fürchtet euch nicht!

Bei diesen Worten denken viele an Weihnachten. Die Engel rufen sie den Hirten zu in der Nacht, in der das göttliche Kind geboren wird.
„Fürchtet euch nicht“: diese Worte finden sich an noch viel mehr Stellen in der Bibel. Und viele Menschen werden sie  hören, wenn sie die Gottesdienste zum Reformationsfest an diesem Samstag besuchen.
Fürchtet euch nicht, habt keine Angst! Wie klingen diese Worte in diesem Jahr, in diesem Herbst in unseren Ohren?
Haben wir nicht allen Grund, uns zu fürchten?
Angst ist ein uralter und überlebenswichtiger Impuls. Angst weist hin auf Gefahren und bewahrt uns so vor Verletzungen aller Art.
Gleichzeitig sagen wir, dass Angst ein schlechter Ratgeber ist. Im Zustand der Angst können wir nur mit Flucht oder Angriff reagieren. Zum Glück ist unser Gehirn aber in der Lage, nicht nur aus dem Modus der Angst heraus zu agieren. Wir können Informationen sammeln, einordnen, verschiedene Alternativen durchdenken und entsprechende Entscheidungen treffen.
Genau das ist heute gefragt. Und so können wir diese uralten Worte „Fürchtet euch nicht!“ vielleicht so übersetzen: „Entängstigt euch!“
Sich entängstigen bedeutet: den Angstmachern und den Verharmlosern mutig entgegentreten, sich selbst und die Umwelt kritisch betrachten, gesellschaftliche Zusammenhänge erkennen, die Tatsachen von Meinungen und „gefühlten Fakten“ unterscheiden.
Im Augenblick erleben wir, dass in der Öffentlichkeit viele Populisten direkt unsere Ängste ansprechen und damit die Urinstinkte wachrufen, die eben Flucht oder Angriff heißen. So wächst die Angst und leider auch die Neigung zu aggressivem Verhalten.
Wir brauchen eine Unterbrechung dieses unheilvollen Kreislaufes der Ängste.
Und die könnte beginnen mit den Worten: „Fürchtet euch nicht!“
Ein Freiraum kann entstehen, ein Augenblick der Ruhe, in der niemand mehr getrieben wird, in dem niemandem die Luft zum Atmen genommen wird.
Wer sich nicht verfangen lässt in der Angst, der kann in den schwierigen Zeiten die weiterführenden Fragen stellen: Worauf macht uns die Krise aufmerksam? Wozu fordert sie uns heraus? Was haben wir bis jetzt möglicherweise übersehen?
Christen sind überzeugt: die Worte „Fürchtet euch nicht“, können wie ein Türöffner wirken – und einen Raum eröffnen, in dem neues Vertrauen wächst.
Glaube ist kein angstfreier Raum, aber einer, in dem die Ängste gut eingeordnet sind und in dem Perspektiven entwickelt werden für eine lebenswerte Zukunft.
Das feiern wir am Reformationsfest, am Fest Allerheiligen und jeden Sonntag. Aber nicht nur da – an jedem Tag.
Und dann ist es vielleicht doch kein Zufall, dass diese Worte „Fürchtet euch nicht!“ genau 365 mal in der Bibel vorkommen.

In schwerer Zeit das Vertrauen nicht zu verlieren – das wünsche ich uns allen!

„Wort zum Sonntag“, von Ansgar Schmidt, Pfarrer der Kirchgemeinde St. Johannis Zittau
Veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung vom 30. Oktober 2020