2020-04-26 – Annäherung

Da habe ich doch gedacht, die Zeit der Corona-Krise wäre möglicherweise geeignet, dass wir Menschen zur Besinnung kommen. Nein, nicht zur Vernunft, zur Besinnung.
Sicher, für manche ist diese Zeit alles andere als besinnlich. Wer im Krankenhaus oder im Supermarkt arbeitet und die verbleibende zweite Hälfte des Tages vor den Schularbeiten seiner Kinder grübelt, der hat im Moment wenig Zeit für Muse.
Aber es gibt doch auch die anderen. Die, deren Berufe nicht unmittelbar systemrelevant scheinen und die für die letzten Wochen erstmal ein wenig aufs Abstellgleis geparkt wurden. Für diejenigen dürfte das Leben der vergangenen Wochen doch um einiges ruhiger gelaufen sein, oder?
Nun ja, und ich hatte mir das so ausgemalt: Dass man dann, wenn einerseits in der Welt alle Zeichen auf Krise stehen und man andererseits so viel mehr Zeit hat, dass man dann fast zwangsläufig „zur Besinnung“ kommt. Sprich: Dass man sich doch mal darauf besinnen müsste, was dem eigenen Leben Grund gibt, was einen trägt und was einen hält. Dass man dann fast zwangsläufig z.B. auch auf die Frage nach Gott stoßen müsste. Aber auch auf andere Fragen. Zum Beispiel auf die Frage nach dem Wert unserer Gemeinschaft – gerade jetzt, wo Gemeinschaft verboten ist.
Was meinen Sie? Ändert sich etwas an unserem Umgang miteinander nach dieser Zeit der Abstinenz? Sind wir danach freundlicher zueinander? Unser Umgangston war ja in der Vergangenheit ziemlich rau geworden und oftmals, so schien es mir, war die Verteidigung des eigenen Standpunktes wichtiger als die Beziehung zueinander. Werden wir nun in Zukunft besser aufeinander achtgeben? Weil wir wissen, wie zerbrechlich diese Gemeinschaft ist. Weil wir erfahren haben, wie einsam man sich fühlt, wenn man Eltern, Enkel, Freunde und Kollegen über einen langen Zeitraum auf einmal nicht mehr sehen darf. Und weil wir auch erfahren haben, dass WhatsApp-Gruppen, Skype und Fernsehgottesdiensten zwar besser als nichts sind, aber die Wärme von physischer Gemeinschaft nicht ersetzen.
Ich hoffe es. Zugleich vermute ich, dass wir in der nächsten Zeit erst einmal ganz besonders zarte Fühler füreinander brauchen werden. In einigen Gesprächen der letzten Tage wurde mir bewusst: Die Zeit der Isolation hat uns teilweise auf sehr unterschiedliche Pfade geschickt. Jeder ist seinen eigenen Gedanken nachgegangen. Jeder hat die Informationsquellen angezapft, die er für richtig befunden hat. Und manchmal, so merke ich, haben wir uns dabei gedanklich ziemlich weit voneinander entfernt. Da wird es Zeit und Feingefühl brauchen, damit wir uns wieder einander annähern.
Aber genau daran wird mir noch einmal deutlich, wie nötig wir die wirklich reale Gemeinschaft miteinander brauchen. Meinungen und Standpunkte allein halten uns nicht zusammen. Im Gegenteil: Dass mir ein Mensch lieb und teuer ist, dass ich gern mit ihm zusammen bin und meine Zeit mit ihm teile, das ist eben mehr als die Summe unserer gemeinsamen Überzeugungen und Ansichten. Gemeinschaft wächst wesentlich durch die Zeit, die wir miteinander verbringen und die Erlebnisse, die wir miteinander teilen.

Ich wünsche uns in den kommenden Wochen das nötige Feingefühl, damit wir wieder zueinander finden. Und vielleicht erfahren wir im Rückblick wirklich noch, wie diese Krise uns in der Gemeinschaft miteinander neu gestärkt hat. Das wünsche ich mir von Herzen.

„Wort zum Sonntag“, von Elisabeth Süßmitt, Pfarrerin der Kirchgemeinde Kittlitz-Nostitz und im Schwesterkirchverbund Löbau,
veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung vom 25./26. April 2020.