2021-07-03 – Perspektivwechsel

Ab und zu ist es gut, sich mal breitbeinig hinzustellen und durch die eigenen Beine kopfüber zu gucken: Was man da alles entdecken kann. Und erstaunlicherweise trotzdem richtig herum liest, weil der Kopf automatisch Schrift in die richtige Richtung dreht. Und doch wirkt manches verwirrend.
In den letzten Monaten stand für viele von uns die ganze Welt Kopf. Alles, was uns bis dato wichtig war, wurde unwichtig oder schwierig, und was bisher nebenbei kaum von uns wahrgenommen wurde, wurde plötzlich lebenswichtig. Spaziergänge in Wäldern zum Beispiel und Abstände.
Und mit diesem Kopfstand merkten wir nun plötzlich, was uns im Leben eigentlich richtig und wichtig ist, was uns fehlt, was uns verwirrt, wenn wir es nicht dürfen, was wir genießen, weil es uns bereichert. Musik – live – zum Beispiel, Theater oder auch selbst Singen dürfen.
Momentan öffnet sich die Welt wieder: wir dürfen wieder singen, Theater besuchen, selbst gemeinsam Musik machen.
Wir dürfen wieder in Gaststätten sitzen und Freunde treffen.
Aber die Sehnsucht der letzten Monate – dieses Gefühl von Unvollständigkeit und Unmöglichkeit sollten wir uns bewahren, damit wir genießen und aus dem Vollen schöpfen können. Damit wir den Wert dessen schätzen, was Theater, Musik und Gaststättenbesuch uns bedeuten.
In der Erwachsenenbildung gibt es eine Methode, die Kopfstand-Methode heißt. Wenn es eigentlich um Gaben, Talente und Ressourcen für Motivation geht, wird mit Absicht andersrum gefragt:
Was könnte man bei uns (in der Firma/ in der Gemeinde) schrumpfen lassen? – Eben Kopfstand – die Perspektive einmal umdrehen und den Blickwinkel wechseln. Und dann beginnt man nachzudenken über das, was nicht selbstverständlich ist. Neue Ideen, überraschende Inspirationen melden sich.
Auch in der Bibel liest man schon davon, dass Gott die Dinge auf den Kopf stellt. Was uns weise erscheint, ist dumm. Was uns dumm erscheint, gilt als weises Leben. Der Glaube an Gott und Jesus Christus lädt ein zum Perspektivwechsel, weil logisch erdachte, sachverständige Weisheit im Glauben an ihre Grenzen stößt. Stattdessen wird wichtig von sich selbst weg auf andere zu schauen, Mitmenschlichkeit und Liebe treten an die Stelle des Verstandes. Das kann uns den Himmel aufspannen und alles wird anders. Auch das Gefühl für Theater, Musik, Singen und Gaststättenbesuch.

„Wort zum Sonntag“, von Brigitte Lammert, Pfarrerin im Kirchspiel Oberes Spreetal
veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung vom 3./4. Juli 2021