2021-11-14 – Erinnerung wachhalten

Mein Großvater kam 1943 verwundet von der Front nach Hause. Er hatte eine Verletzung am Oberarm erlitten und konnte vier Monate bei seiner Familie bleiben. Noch ehe die Wunde ganz ausgeheilt war, wurde er wieder zurück an die Front geschickt.

Ich weiß nicht, was er gefühlt hat, als er aus dem vergleichsweise sicheren Zuhause, nur halbwegs genesen, wieder zurück musste in den Alptraum des Krieges. Ich stelle mir vor, dass er auf dem Weg zum Bahnhof von lähmender Verzweiflung befallen wurde. Er war bereits traumatisiert von dem, was er dort erlebt hatte. Weder Heldentum noch Sieg erwartete ihn, nur Angst und Entsetzen. Von seiner Frau und seinen Kindern verabschiedete er sich wie für immer. Er ist nie wieder zurück gekommen und blieb vermisst.

Meine Großmutter ging im kalten Winter 1945 mit ihren vier Kindern auf die Flucht vor der russischen Armee. Sie nahm die Federbetten mit, um nicht zu erfrieren. Viel mehr konnte sie nicht transportieren. Der Treck zog von Pommern über die Oder bis nach Mecklenburg. Dort kamen sie als Flüchtlinge an und wurden nicht willkommen geheißen.

Am 14.November begehen wir den Volkstrauertag.

Wir trauern um die vielen zerstörten Menschenleben, die zerstörten Familien und die zerstörten Lebensgeschichten in allen am Krieg beteiligten Ländern. Wir erinnern uns an die schwere Schuld, die Deutschland in dieser Zeit auf sich geladen hat. Unvorstellbares Leid mussten Menschen in Lagern und Gefängnissen, als Zwangsarbeiter, bei Massenerschießungen und Folterungen durchmachen.

Wir halten die Erinnerung wach. Der Frieden gehört zu den höchsten Gütern: der innere Frieden zwischen den Gruppierungen und Parteien im Land, der äußere Frieden zwischen den Völkern, der Friede zwischen den unterschiedlichen Religionen und der Friede in den Familien.

Seit 1980 begehen wir in den zehn Tagen vor dem Buß- und Bettag die Friedensdekade und beten täglich in den Kirchen um Frieden und Versöhnung in allen Ländern der Erde. „Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen,“ hat Jesus gesagt.

„Wort zum Sonntag“, von Barbara Herbig, Pfarrerin in der Kirchgemeinde Zittauer Gebirge-Olbersdorf,
veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung vom 13./14. November 2021