2022-03-13 – Die liebe Gewohnheit

Liebe Gewohnheiten werden gerade mehrere in Frage gestellt, ja durchbrochen: Ein bis vor wenigen Tagen nicht vorstellbarer Krieg in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Steigende Preise insbesondere bei Energie und Lebensmitteln. Menschen suchen zu tausenden Schutz und kommen auf der Flucht zu uns. Die gewohnte Ruhe war schon mit den Diskussionen um Corona dahin. Nun erst richtig. Aufregung und Angst, aber auch Empörung und Hysterie sowie fragwürdige Erzählungen breiten sich schier unaufhaltsam aus. Wem kann ich glauben? Das liebe Gewohnte zerbricht.

Zur gleichen Zeit sind in einigen unserer Kirchen seit Aschermittwoch die Altäre mit Fastentüchern verhüllt. Der gewohnte Anblick wird gestört. In den 40 Tagen bis Ostern erinnern wir uns an den Leidensweg von Jesus und begehen ihn mit Fasten. Die Passionszeit hat begonnen und das Große Zittauer Fastentuch wird 550 Jahre. Als es gestiftet wurde, litten die Menschen an Kriegen und Hungersnöten. Viele dieser Fastentücher stellen die Leiden Jesu in den Mittelpunkt. In diesen Bildern haben seit Jahrhunderten Menschen sich selbst gesehen. Sie blickten dabei nicht nur in den Spiegel ihrer eigenen Situation oder die der anderen Menschen. Sie blicken auf Jesus: Jesus ruft zum Frieden. In seinen Worten, z.B. in der Bergpredigt, und in seinen Taten machte er Frieden. Oft hat er damit „liebe Gewohnheiten“, wie die überlieferte Feindschaft zu den Samaritern, durchbrochen. Er ist auf Menschen zugegangen, die von anderen angefeindet und verschmäht wurden. Das brachte ihm viel Kritik ein. Schließlich sogar den Tod am Kreuz.

Jesus leidet selbst mit. Gott leidet an uns. Nach seinem Willen soll kein Krieg sein! In allen Kirchen unserer Region finden Friedensgebete statt. Diese Fastenzeit 2022 fragt uns eindringlich nach unseren lieben Gewohnheiten. Sie lässt uns schmerzhaft erkennen, was wir brauchen und was viele Jahrzehnte so selbstverständlich war, dass wir uns darum nicht kümmern mussten: Frieden. Sie fragt uns nach dem, was uns wirklich wichtig ist. „Er ist unser Friede.“ (Epheser 2,14) Beten wir dafür!

„Wort zum Sonntag“, von Dr. Christian Mai, Pfarrer in der Kirchgemeinde Zittauer Gebirge-Olbersdorf,
veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung vom 12./13. März 2022