2022-10-09 – Von der Sehnsucht, das Siegen zu vergessen

Kennen Sie noch das Gefühl, wie es war, die vier Spielfigürchen der eigenen Farbe nach und nach in die Mitte zu retten, ins „Loch“, wie meine Oma sagte, bevor man bei diesem klassischen Verlierer- und Gewinnerspiel namens „Mensch ärgere dich nicht“ dann vielleicht doch wieder rausgeschmissen wurde? Man liebt es oder man hasst es; viel dazwischen gibt es nicht.

Egal, wo Sie sich einsortieren: Das Eigene retten, die eigenen Schäfchen ins Trockene bringen, das ist ein Sport, den wir alle gelernt haben. Dinge „jagen“ und „erlegen“; wir tun das für uns oder für die Lieben oder für die Zukunft; Begründungen finden sich leicht. Wir tun es, weil es nötig ist. Aber tun wir es gern?

Als Kind, beim Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel, da war ich im Kampfmodus, klar. Die 20 Minuten mit Oma und den beiden Cousins hat das auch richtig Spaß gemacht. Viel lieber erinnere ich mich jedoch daran, wie wir zusammen gekocht haben, Oma und ich. Die Rituale waren eingespielt; das Kochen verlief absolut stressfrei. Innerhalb von Omas Welt musste ich nicht jagen und siegen. In Omas Welt war ich Sieger, unangefochten, denn immer nur eins von uns Geschwistern durfte zu Oma; die anderen waren an den anderen Wochenenden dran. War ich dran, dann war ich so selbstverständlich ihr Gewinner, dass ich die Kampfesgewohnheiten aus dem Kindergarten vergaß.

Auch, wenn es schon lange vorbei ist: Das Gefühl von „Kochen mit Oma“ erinnert mich an einen Zustand, den Gott auch erwachsenen Menschen gönnt: Sich darauf zu verlassen, dass die Jagd nach den kleinen und großen Siegen im Leben nicht das Eigentliche ist. Gemeinsam kochen, reden, teilen und essen, so als ob man niemals mehr jagen müsste; wäre das nicht so viel wert, dass man den Drang, siegreich das Eigene zu retten, darüber getrost vergessen könnte?

„Wort zum Sonntag“, von Pfarrer Stephan Rehm, Ev.-Luth. Kirchspiel Oberes Spreetal, veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung vom 8./9.Oktober 2022.