2023-03-19 – Fenster auf!

„Weißt du, warum es im Winter immer so kalt ist?“, das fragte mich als kleinen Jungen der Opa und lächelte verschmitzt. „Es liegt daran, dass im Winter alle ihre Fenster zumachen und die Wärme drin behalten.“ Hinter meiner Stirn fingen die Gedanken an zu flattern und fanden einen Einwand: „Aber die Wärme in den Häusern reicht doch nie, um es draußen wärmer zu machen.“ Darauf setzte Opa meine Logik mit seiner Gegenprobe schachmatt: „Aber schau mal: Im Sommer, da machen die Leute ihre Fenster alle auf, und wie ist es dann draußen?“ Und ich musste zugeben: „Da ist es dann warm.“

 Was im Blick auf die Außentemperatur eine lustige, aber unsinnige Kombination von Fakten ist, das wird im Blick auf die soziale Temperatur unserer Gesellschaft auf einmal folgerichtig. Könnte es sein, dass wir die Zeiten nicht nur deshalb als schwierig empfinden, weil sie zugegebenermaßen krisenhaft sind, sondern weil wir außerdem die Fenster zueinander verschließen? Und weil so unsere Gemeinschaft spürbar abkühlt?

 Stellen wir uns einmal einen Wohnblock vor – für mich der Ort, an dem ich früher mit dem Fußball die Wäsche auf dem Bleichplatz öfter getroffen habe als das gegnerische Tor – so ein Wohnblock: Die Fenster sind offen, Wäsche hängt draußen, Kinder spielen Verstecken. Auf einmal hört man jemanden rufen: „Pandemie aufarbeiten!“, sofort fliegen die ersten Fenster zu. Als dann eine Stimme lautstark anmahnt: „Stoppt den Klimawandel“, da sind bereits die Fenster der unteren zweieinhalb Etagen verriegelt. Bei der Forderung: „Mehr Waffen liefern“, rasseln die Rollos in den oberen Stockwerken runter. Und als dann noch durch ein Megaphon der Aufruf knistert, das „Manifest für den Frieden“ zu unterschreiben, da rufen die Letzten verängstigt ihre Kinder rein. Jetzt hört keiner mehr den anderen. Stünde unser Wohnblock in der Prärie Nordamerikas würde es einen der typischen runden Sträucher die Straße entlang wehen. Kalt ist es, wenn alle dicht machen. So wird es Winter sein, auch mitten im Sommer.

 Wie anders klingt da, was Paulus uns in Römer 12 sagt; jeder Satz ein Fensteröffner: „Nehmt euch der Nöte derer in der Gemeinde an. Übt Gastfreundschaft. Segnet, die euch verfolgen; segnet und flucht nicht. Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden. Seid eines Sinnes untereinander… Haltet euch nicht selbst für klug. Vergeltet nicht Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist´s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.“ Jeder Satz sagt: Fenster auf zum anderen! Doch, verrammelt wie ich bin, schaffe ich das nicht allein. Da heißt es: Fenster auf zu Gott und beten. Er möge uns die Kraft dazu geben, dass Sommer wird, auch im Winter.

„Wort zum Sonntag“, von Gerd Krumbiegel, Pfarrer in Großschönau, veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung vom 18./19. März 2023