2023-07-01 – Ich trage doch keine Last. Ich trage meinen Bruder.

Ein europäischer Wanderer trifft auf einem kleinen Wanderpfad im Nepal ein junges Mädchen, etwa 14 Jahre alt, die ihren kleinen Bruder, etwa 8 Jahre alt, auf dem Rücken trägt. Er möchte ihr sein Mitgefühl ausdrücken und ruft ihr zu: „Da hast Du ja eine ganz schöne Last zu tragen.“ Das Mädchen schaut ihn an und sagt: „Ich trage keine Last. Ich trage meinen Bruder.“ So unterschiedlich kann der Blick sein. Der Wanderer sieht die „Last“ und das junge Mädchen ihren Bruder. Natürlich ist das Gehen mit ihrem kleinen Bruder auf dem Rücken beschwerlich, aber sie macht es gern. Denn schließlich weiß sie ja, wer auf ihrem Rücken ist und wessen Arme sich um ihren Körper klammern. Vermutlich hat die Kraft des Jungen nicht mehr ausgereicht und so trägt sie ihn, ganz selbstverständlich.

„Einer trage des anderen Last“ ist der Titel eines DEFA-Films, der 1988 erstmalig gezeigt wurde. Ein junger Politoffizier und ein angehender Pfarrer treffen in einer Lungenklinik aufeinander. Am Anfang verhindern die „ideologischen Balken“ in ihren Köpfen, dass sie sich einander annähern. Doch das ändert sich im Laufe der Handlung. Am Ende stehen sie vereint im Kampf gegen die Krankheit, nehmen Anteil am Leben des anderen und erkennen, wie kindisch sie am Anfang waren.

Vielleicht werden Sie jetzt kritisch einwenden: „Wie soll das gehen, die Last des anderen zu tragen? Am Ende bin ich ja doch auf mich gestellt; hilft mir keiner, auch Gott nicht.“ Worte wie diese höre ich manchmal im Gespräch. Innerlich schrecke ich erst einmal zurück, denn aus Worten wie diesen spricht die Enttäuschung und die Resignation. Ich kann das ein stückweit verstehen. Natürlich ist Anteilnehmen am Leid des anderen begrenzt, kann mir niemand das, was mich bedrückt im wörtlichen Sinne „abnehmen“. Dennoch tut es gut, wenn ich mein Leid mit einem anderen Menschen „teilen“ kann. Ich fühle mich dann nicht mehr allein. Es gut zu spüren, dass mein Gegenüber Anteil an meinem Leben nimmt und dass ich nicht allein für mich hoffen muss. Gemeinsam geht es leichter und wächst auch die Hoffnung. Und dann ist da auch noch Gott. Selten „senkrecht von oben“, aber mit ausgebreiteten Armen und den Worten: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch froh machen.“ (Matthäus 11,28) „Froh machen“ heißt: Gott hilft mir einerseits das zu tragen, was mir das Leben selbst auferlegt. Andererseits bietet er mir an, mich von meiner Schuld zu „entlasten“.

Falls Sie gerade eine schwere Situation zu bestehen haben, wünsche ich Ihnen die Erfahrung, dass Sie getragen werden – und den Mut, es zuzulassen. Umgekehrt wünsche ich denen, die gerade gut und sicher im Leben stehen, den Mut, Anteil zu nehmen am Leid anderer. Auch wenn es Kraft kostet, steht am Ende die Erfahrung: „… durch Schenken wird man reich allein!“ (G. Schöne: „Spar deinen Wein nicht auf für morgen“)

„Wort zum Sonntag“, von Peter Pertzsch, Pfarrer und Krankenhausseelsorger im Fachkrankenhaus Großschweidnitz , veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung vom 30. Juni/1. Juli 2023.