2024-11-17 – Wie gut, dass ein anderer richtet
Die Richterin verliest die Anklage. Ein 17-Jähriger hat einen Kiosk überfallen. Der junge Mann schafft seinen Realschulabschluss; danach geht alles schief. In der Lehre findet er keinen Anschluss. „Freunde“ überlassen ihm Drogen auf Kommission. Er verkauft sie, konsumiert aber auch selbst – zu viel. Dass Geld fehlt, dauert nicht lange. Den Kiosk kennt er noch vom Schulweg. Mit einer täuschend echten Luftpistole in der Tasche beobachtet er den Kiosk. Irgendwann zieht er seine Kapuze auf, den Schal über die Nase und stürzt hinein. Er verlangt Geld und droht, sonst zu schießen. Die junge Frau hat Todesangst. Ihre Mutter ist mit einem Baseballschläger bewaffnet. Der Täter schießt zweimal. Es gibt Bilder der Überwachungskamera; der Täter ist geständig.
Im Gerichtssaal blickt die Zeugin den Täter kaum an. Sie kann seitdem nicht mehr nachts arbeiten. „Warum“ fragt sie, „macht jemand alles kaputt, was man sich aufgebaut hat?“ Der Täter ist erschüttert. Er bittet um Entschuldigung. Sie nimmt sie nicht an. Obwohl das nicht vorgesehen ist, spricht die Mutter. Sie redet, als wäre es ihr Sohn. Im Gegensatz zu ihrer Tochter akzeptiert sie seine Entschuldigung. Das Urteil, was danach noch gesprochen wird, ist Nebensache.
»Du aber, was richtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.« (Neues Testament, Römerbrief 14,10). Könnte unser Gemeinwesen ohne Gerichte auskommen? Sicher nicht. Es braucht eine Instanz, wo Opfer gehört werden, Täter um Entschuldigung bitten, Dinge zurechtgerückt werden können. Wie wohl mein Leben vor einem Gericht beurteilt werden würde? Wie gut, dass wir das Gott überlassen können, anstatt uns gegenseitig zu verurteilen.
„Wort zum Sonntag“, von Stephan Rehm, Pfarrer im Kirchspiel Oberes Spreetal, veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung vom 16./17. November 2024.